Eine Kurzgeschichte mit Biss.
Oma Henriette hatte darauf bestanden, dass sie mit dem Taxi zum Bahnhof fuhr. Die alte Dame hielt die U-Bahn nach wie vor für eine undurchsichtige und riskante Höllenmaschine – obwohl sie selbst in Budapest aufgewachsen war und die dortige Untergrundbahn eine der ältesten weltweit ist. „Hamburg ist nicht Budapest“, pflegte Oma Henriette auf Katjas Einwände zu antworten. Beziehungsweise lautet so die Übersetzung ihrer Antwort: Auch nach 50 Lebensjahren in Deutschland bestand Henriette P. darauf, mit allen Familienangehörigen in ihrer Muttersprache zu sprechen. Und da ihr sonst nichts anderes übriggeblieben war, hatte Katja schon als Kind Ungarisch gelernt.
Die Fahrt mit dem Taxi war zwar teuer, aber sehr bequem gewesen, und Katja hatte den Bahnhof frühzeitig erreicht. Sie kaufte sich am Kiosk eine Cola und beschloss dann, in der Buchhandlung nach einer geeigneten Reiselektüre zu suchen. Auf Zeitschriften hatte sie keine Lust – nicht schon wieder Klatsch, Tratsch, Crash-Diäten und Rezepte für Sahnetorten auf der nächsten Seite … Die Fahrt von Hamburg nach Frankfurt würde fast 6 Stunden dauern; vielleicht also etwas Spannendes? Ein Krimi? Eher zufällig entdeckte sie bei den Taschenbüchern die „Kleine Weltgeschichte der Philosophie“. Mit Büchertüte, Coladose, Rucksack und Handtasche bewaffnet schlenderte sie zum Bahnsteig, wo der Zug nach Frankfurt schon bereitstand. Ziemlich weit vorne fand sie einen Fensterplatz in einem dieser so hübsch altmodischen 6er-Abteils.
Nachdem sie den Rucksack ins Gepäcknetz gewuchtet und den Parka ausgezogen hatte, widmete sie sich ihrem Buch. Je schneller sie damit anfing, desto besser, denn hätte sie es erst einmal aufgeschoben, würde das Buch zu Hause in das Regal der ungelesenen Bücher wandern – gleich zu Ecos „Name der Rose“ und Norfolks „Lemprière’s Wörterbuch“. Bestseller, Lesetipps von Freunden, Klassiker und lästige Pflichtlektüren aus der Schulzeit standen dort vorwurfsvoll und unberührt, als wollten sie Katja täglich ermahnen, weniger sprunghaft zu sein. „Du bist einfach nicht konsequent“, sagte Oma Henriette dazu immer – als sei Konsequenz das Allheilmittel gegen jegliche Schwächen. Zugegebenermaßen, sie selbst hatte keine Laster außer ihrem abendlichen Gläschen Rotwein, das sie allerdings als natürliches Schlummermittel bezeichnete.
Die Einleitung überflog Katja rasch; dann jedoch begann sie konzentriert zu lesen und vertiefte sich in den Abschnitt über die vorsokratischen Naturphilosophen. Thales – ein Name, den sie noch nie gehört hatte: Nach antiker Überlieferung antwortete er auf die Frage, was am schwersten von allen Dingen sei: „Sich selbst zu kennen“, was am leichtesten sei: „Anderen Rat geben“; was Gott sei: „Das, welches weder Anfang noch Ende hat.“ Vielleicht war es gar nicht so schwierig, ein Philosoph zu sein, wenn man nur ganz alltägliche Weisheiten in ihr Gegenteil verkehrte? Gott ist, was kein Anfang und kein Ende hat – okay, darauf würde sich sogar der Papst einlassen.
Aber ist es nicht ganz einfach, sich selbst zu kennen und auf der anderen Seite sehr schwierig, anderen einen Rat zu geben – natürlich vorausgesetzt, man bemüht sich darum, wirklich wohlüberlegt und hilfreich zu sein? Alles einfach umkehren: ein faszinierender Gedanke. Und so herrlich einfach. Katja probierte diese Theorie gleich aus. Wer einmal lügt, und zwar erfolgreich, dem wird man in Zukunft alles glauben, egal welchen Schwachsinn er erzählt. Oder: Lieber auf den Spatz in der Hand verzichten als die Taube auf dem Dach aus den Augen verlieren. Klang auch gut – und reizte viel mehr dazu, darüber nachzudenken, als die langweiligen alten Redensarten.
Draußen wurde es langsam dunkel, und das Leselicht im Abteil war noch nicht eingeschaltet. Katja legte das Buch zur Seite und öffnete mit einem leisen Zischen ihre Coladose. Seit wann gab es eigentlich diese neuen Deckel, überlegte sie. Sehr lange war es noch nicht her, dass man die scharfkantige Öffnungslasche wie einen tückischen Ring in der Hand hielt und, wenn kein geeigneter Abfall in der Nähe war, einfach auf den Boden fallen ließ. Damals waren die Bürgersteige regelrecht übersät von diesen Dosenringen, die – leicht nach oben gewölbt – eine echte Gefahr für Barfußläufer darstellten.
Katja trank durstig ihre Cola, die sie sich eigentlich für unterwegs hatte aufsparen wollen. Na ja, dann würde sie auch nicht warm werden.
An den dumpfen Stimmen und dem leichten Vibrieren des Bodens spürte sie, dass der Zug sich langsam füllte, und endlich wurden auch die Leselampen eingeschaltet. Sie vertiefte sich wieder in ihre Lektüre. Pythagoras mit seiner Forderung nach Selbstdisziplin, Genügsamkeit und Enthaltsamkeit war ihr nicht sonderlich sympathisch – kein Wunder, dass dieser Typ mathematische Formeln erfunden hatte. Wie würde er wohl heute leben? Wahrscheinlich in einer Sekte oder als Universitätsdozent.
Zenon war offensichtlich eher ein Typ, der sich aus seinem Denksport einen rechten Spaß machte. Ein fliegender Pfeil, in jedem beliebigen Einzelmoment seines Fluges betrachtet, befindet sich an einer bestimmten Stelle des Raumes, an der er in diesem Moment ruht. Wenn er aber in jedem einzelnen Zeitpunkt ruht, so ruht er auch im ganzen; das heißt, der fliegende Pfeil bewegt sich nicht – es gibt keine Bewegung. Der hatte also schon sehr früh entdeckt, dass man alles plausibel machen kann, wenn man es nur schlüssig beweist. Und sicher hat es ihm eine diebische Freude bereitet, die sachlichen Logiker mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, auch und gerade wenn er seine Behauptungen als reine Übertreibung ansah. Das Widersprechen ist nunmal eine reizvolle Sache, und Katja erinnerte sich an Situationen, in denen sie selbst vollkommen entgegen ihrer früheren Meinung argumentiert hatte, nur um irgendeinen langweiligen Rechthaber auf die Palme zu bringen. Und wahrscheinlich hatte auch Oma Henriette aus keinem anderen Grund darauf bestanden, dass Katja mit dem Taxi fahren sollte – nur weil eben Katja den Vorschlag gemacht hatte, die U-Bahn zu nehmen und ihre Großmutter ob ihrer altmodischen Einstellung belächelte.
Das erste, was Katja von ihnen hörte, war der Satz „Kommt hierher, Leute, hier ist noch alles frei“. Der Sprecher hielt die Schiebetür zu Katjas Abteil auf, schaute aber über seine Schulter zurück in den Durchgang, sodass Katja zunächst nur eine sonnengebräunte und siegelberingte Männerhand sah. Der Sprecher, dessen hohe Stimme gar nicht zu seiner Körpergröße zu passen schien, musste sie gesehen haben, denn sie saß direkt am Fenster. Sie hatte aufgeschaut, um den Eindringling zu mustern und – wenn es sich ergab – ihm freundlich zuzunicken, aber er trat wieder hinaus in den Gang, um seinen Mitreisenden den Vortritt zu lassen.
Katja tat so, als sei sie noch immer in das Buch vertieft, denn sie wollte nicht neugierig erscheinen. Plötzlich war der kleine Raum voller Stimmengewirr, Taschen, Beine, Mäntel, Düfte. Es erschien ihr, als seien mindestens zehn oder zwölf Leute eingetreten, doch als nach einer Weile alle saßen, zeigte sich, dass das Abteil jetzt völlig korrekt besetzt war – mit sechs Fahrgästen, den fünf Neuankömmlingen und ihr selbst. Katja fühlte sich ganz klein in ihrem Sitz, und nachdem ihr bis eben das ganze Abteil gehört hatte, kam sie sich nun vor wie ein unwillkommener Eindringling. Wer zu früh kommt, den bestraft das Leben. Niemand schien sie bisher wahrgenommen zu haben. Bei so wenig Höflichkeit zögerte sie nun nicht länger, die ganze Gesellschaft ganz ungeniert zu beobachten.
Ihr direkt gegenüber saß der Entdecker des Abteils. Seine Gesamterscheinung passte zu der Hand, die Katja schon gesehen hatte: extrem kurzes Haar, glattrasiert, auffällige grüne Hornbrille, farbenfrohe Kleidung mit orangefarbenem Hemd unter dem Armani-Anzug, bunte Socken – alles sehr teuer und sehr ungewöhnlich. Der kleine Schnitt am Kinn, der noch nicht verheilt war, musste wohl vom Rasieren kommen.
Er schaute bereits zum dritten Mal auf seine goldene Armbanduhr, ganz so, als wolle er sich mehr von ihrer edlen Exklusivität überzeugen, als die Uhrzeit abzulesen.
„Müssten wir nicht schon längst losgefahren sein, Schatzi?“ nörgelten die blutrot geschminkten Lippen neben ihm. Die tiefschwarz gefärbten Haare der Frau bildeten einen nicht mehr steigerungsfähigen Kontrast zu diesem Mund, der sich erneut weinerlich verzog: „Sowas passiert mit öffentlichen Verkehrsmitteln doch ständig, und wahrscheinlich streikt wieder irgendjemand. Ausgerechnet, wenn wir an Bord sind.“ An Bord – ein merkwürdiger Ausdruck für dieses gewöhnliche Eisenbahnabteil. Den Schaffner würde sie wohl Steward nennen und den Bahnhof Railport … „Du irrst dich, Liebling, der Zug startet fahrplanmäßig in genau 170 Sekunden“, beschwichtigte sie der Entdecker, während er einen weiteren Blick auf die Uhr warf, die sicher den Namen „Chronometer“ verdient hatte. Rotlippchen schmollte weiter und versank schließlich völlig in die Betrachtung ihrer Fingernägel, die nicht nur exakt denselben Farbton wie die Lippen aufwiesen, sondern auch aussahen, als benötigte man dafür einen Waffenschein.
Die Frau neben Katja, eine im Vergleich zu Rotlippchen erfreulich dezente Erscheinung in blauschimmerndem Seidenhosenanzug, hielt die Zeit für gekommen, endlich für Stimmung zu sorgen: „Kinder, ich glaub ich pack schonmal den Vino aus“, rief sie übertrieben gutgelaunt. Glücklicherweise ging ihr Nebenmann sofort auf den Vorschlag ein: „Prima Idee, wo sind die Gläser, wo ist der Öffner, und vor allem – wo die Delikatessen? Für das Geld, das wir dafür hingelegt haben, müssen die ja echt spitzenmäßig schmecken.“
Noch während der Sprecher den Satz beendete, war plötzlich eine allgemeine Geschäftigkeit ausgebrochen. Alle außer diesem Mann begannen, irgendwelche Utensilien auszupacken: Weinflaschen, französisches Weißbrot, ein Messer, einen Flaschenöffner, Konserven mit edlen Gänseleberpasteten und sogar Weingläser aus Kristall. Der Sprecher, ein lässig schwarz-weiß gekleideter Typ mit dunklen Haaren und dunklem Teint, schien es gewohnt zu sein, dass man seine Vorschläge sofort realisierte, ohne dabei mit seiner Mithilfe zu rechnen. Die schlanke Wasserstoffblonde im roten Kostüm, die ihm gegenüber saß, reichte ihm unaufgefordert ein Glas: „Du musst den Wein probieren, Mausibärchen, aber denk dran: Es gibt keinen Kellner, den du wegschicken könntest …“ Ein Lacherfolg, wie zu erwarten. Sogar der Lässige verzog seinen scharfgeschnittenen Mund zu einer Andeutung eines Lächelns. Miss Wasserstoff schien genau zu wissen, wie sie ihr Mausibärchen in gute Laune versetzte.
Der Zug setzte sich langsam in Bewegung, und Katja versuchte erneut, sich auf ihr Buch zu konzentrieren, während Mausibärchen & Co. sich voll auf ihre kleine Party konzentrierten. Brot wurde hin- und hergereicht, bald öffnete der Entdecker die zweite Flasche Rotwein, und die Stimmung stieg deutlich – sogar Rotlippchen schmollte nicht mehr, sondern stieß hin und wieder schrille Lacher aus. Den Rotweinfleck auf ihrem gelben Bogner-Kostüm schien sie nicht bemerkt zu haben. Bald war eine laute Diskussion zum Thema „Partyservice“ im Gange, und Miss Wasserstoff berichtete aufgeregt von dem neuen Franzosen, den sie „entdeckt“ hatte. Unheimlich exklusiv, und natürlich nicht ganz billig. Die Dezente war interessiert an der Adresse, nur für den Fall, dass ihre Sekretärin für den nächsten Kundenbesuch einen Tipp brauchte – ewig Mövenpick ist ja auch öde. „Die Gartenparty kürzlich bei unseren Freunden in Monaco war in dieser Hinsicht unübertroffen, nicht wahr, Schatzi?“, schwärmte Rotlippchen, auch wenn sie gleich danach zugeben musste, dass keiner der Grimaldis und noch nichtmal Claudia Schiffer eingeladen war.
Eine kleine Niederlage, die ihre Stimmung fast wieder getrübt hätte, doch der Entdecker füllte ihr Weinglas auf, was mit einem Strahlen belohnt wurde. Auch die Dezente hielt kauend ihr Kristallglas in die Luft und forderte zwinkernd Nachschub. Das Essen sah wirklich verlockend aus. Katjas Magen knurrte, und sie war davon überzeugt, dass man es einfach nicht überhört haben konnte. Die Dezente schaute auch sekundenlang zu ihr hin, mitleidig lächelnd. Mein Gott, wie peinlich – sie musste sich unbedingt ablenken, bevor man laut über sie lachen würde. Inzwischen war sie bei Heraklit angelangt, der nicht nur alles fließt gesagt hatte, sondern auch: Gott ist Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Frieden, Überfluss und Hunger. Was sollte denn das schon wieder bedeuten? Jedes Ding bedarf zu seinem Sinn seines Gegenteils. Ist ja hochinteressant. Was ist das Gegenteil von Gartenpartys in Monaco?
Mausibärchen hatte ganz andere Probleme: Dieser dämliche Verkäufer hätte fast auf ein Bombengeschäft verzichtet, nur weil er die Formulare für die goldene Mastercard nicht finden konnte. „Dann hätte er sich den Golfschläger eben an den Hut stecken sollen, Mausibärchen“, kommentierte Miss Wasserstoff und bekam einen Schluckauf. „Wisst ihr eigentlich schon das Allerneuste?“, lockte Rotlippchen schrill: „Dominique ist schon wieder schwanger! Ist das zu fassen?“ Katja hätte nicht gedacht, dass Frauen namens Dominique sich überhaupt zum Kinderkriegen herabließen, und offensichtlich waren ihre Mitreisenden entsprechend entsetzt von diesem Fauxpas. „Na ja, ihre Figur kann sie ja dann wohl vergessen“, nuschelte der Entdecker und strich seine beringte Hand zufrieden über seinen eigenen Bauch, über dem sein Hemd leicht spannte. „Jedenfalls brauchen wir Dominique und Harry in Zukunft nicht mehr einzuladen“, stellte Rotlippchen zufrieden fest, während sie versuchte, einen Brotkrümel aus ihrem Weinglas herauszufischen. „Geht mir voll auf den Keks, dieses ewige Kindergeschrei“, murmelte sie abschließend; doch das Thema war schon längst beendet. Jetzt kamen diverse Urlaubsreisen aufs Tapet.
Katja wünschte sich weit, weit weg. Oder zumindest, dass sie unsichtbar wäre – oder so klein wie ein Floh. Dann würde sie die ganze Bagage ordentlich quälen … Bei diesem Gedanken musste sie grinsen – schnell vertiefte sie sich wieder in die Welt der Philosophie, um nicht die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Was wahrscheinlich aber nie geschehen würde – außer vielleicht, sie versuchte einen epileptischen Anfall vortäuschen. Gar keine schlechte Idee, eigentlich …
„Die Osterinseln waren jedenfalls phantastisch“, prahlte Mausibärchen, der Lässige, und Miss Wasserstoff – noch nicht ganz über den Schluckauf hinweg – schwärmte von der „Kultur, und so“. „Kulturbeutel“, schoss es Katja in den Kopf. Eine wahrhaft bemerkenswerte Vokabel – fast so gut wie „Übergangsmantel“. Rotlippchen kannte jemanden, der auch schonmal auf den Osterinseln gewesen war, aber von der „Kultur, und so“ gar nicht besonders begeistert gewesen war, jedenfalls nicht im Vergleich zu Ägypten. „Voller Touristen ist das heutzutage“, jammerte die Dezente, „man weiß fast nicht mehr, wo man noch hinfahren soll.“ „Wir fahren nächsten Monat wieder in den Robinson Club, nicht wahr, Schatzi“, nörgelte Rotlippchen, nicht mehr ganz deutlich – und plötzlich klang sie ganz eindeutig nach Gelsenkirchen. Katja schaute aus dem Fenster – es war dunkel draußen, und im Glas spiegelte sich etwas verzerrt die Szene im Abteil. Noch mindestens vier Stunden bis Frankfurt. Und keine Chance, unauffällig das Abteil zu verlassen. Das Buch entpuppte sich als echter Glücksfall.
Um die zu seinen Lebzeiten verbreitete Ansicht von seiner Göttlichkeit – er war selbst von dieser überzeugt – zu stützen, soll sich Empedokles nach antiker Überlieferung in den Krater des Ätna gestürzt haben, auf da jede Spur von seinem Tode getilgt werde und eine Legende von einem übernatürlichen Ende sich bilde. Jedoch soll der Vulkan diese seine Absicht vereitelt haben, indem er einen Schuh des Empedokles wieder ausspie.
„… vor zwei Wochen ein herrliches Wochenende in Budapest“, berichtete die Dezente eben. „Ungarn ist ein ungeschliffener Juwel mitten in Europa, und ich habe ihn entdeckt“, prahlte Mausibärchen – Miss Wasserstoff rülpste zustimmend. „Jawoll, eckeschecke“, rief Rotlippchen übermütig, und prostete dem Entdecker zu. Inzwischen standen schon vier leere Weinflaschen am Boden, die fünfte ging langsam zur Neige. „Das heißt nich‘ eckeschecke, sonnern ägareschägare“, belehrte der Entdecker sie. „Das soll wohl Prost heißen? Auf Ungarisch? Also ich hab‘ mir nur drei Vokabeln gemerkt“, mischte sich die Dezente wieder ein, „nämlich: menikerl, das heißt: wie viel kostet – ganz wichtig, sonst wirste dort dauernd beschissen: dann noch: pesskoh für Champagner und lippamapaste für Gänseleberpastete“, plapperte sie weiter.
Mein Gott – wer in aller Welt hätte in Ungarn dieses Kauderwelsch verstehen sollen? Katja musste sich jetzt wirklich das Lachen verkneifen, obwohl in ihr gleichzeitig der Zorn hochstieg. Wie respektlos – nicht nur über die Ungarn herzuziehen, sondern auch ihre Sprache dermaßen zu verballhornen: Zungenbrecher wie egészégére, mennyie kerül, pezsgo und libamájpástétom sollte man eigentlich erst dann lernen, wenn man die Vokabeln für „Danke“, „Bitte“ und „Entschuldigung“ kannte …
Der Alkohol tat weiterhin seine Wirkung: Der Entdecker und Mausibärchen gingen hinaus in den Durchgang, um sich mit einer John Player’s zu belohnen. Das war die Chance: Im allgemeinen Durcheinander schob sich Katja an der Dezenten vorbei und flüchtete sich auf den einzigen Ort, der für eine Weile wirkliche Ruhe versprach: die Toilette. Sie sank auf den Deckel und stützte mit einem lauten Stöhnen den Kopf auf die Hände. „Was würde Pythagoras mit seiner Scheiß-Selbstdisziplin und Genügsamkeit jetzt raten?“, fragte sie sich halblaut. Händewaschen. Lippen mit Fettstift eincremen. Tief durchatmen. Autogenes Training? „Ich muss da raus, soviel ist siche.“ Ob überhaupt schon jemand bemerkt hatte, dass sie weg war? Natürlich – die Bande musste sie die ganze Zeit beobachtet haben. Beobachtet, aber ignoriert. Der Zug bremste quietschend. Kassel. Füßegetrappel, Gedränge an den Ausgängen – dann ein Pfiff, und es ging weiter.
Jemand klopfte an die Tür. „Bin gleich soweit“, rief Katja und wusch nochmal die Hände. Der Zug war ziemlich vollbesetzt. Der nächste Waggon war ebenfalls einer mit 6er-Abteils. Gleich bei der ersten Tür ein Volltreffer – fünf unbesetzte Plätze. „Sind die noch frei?“ „Natürlich“, sagte die Nonne, „eine ganze Familie ist gerade ausgestiegen – Sie haben Glück“. „Bin sofort zurück – vielen Dank“, und schon sauste sie zurück. Der Entdecker und Mausibärchen hatten ihre Plätze wieder eingenommen, die Party war in vollem Gange. Miss Wasserstoff versuchte, die anderen mit einer Geschichte über King George zu beeindrucken. Während Katja sich Gepäck und Parka schnappte, wurde ihr klar, dass King George ein Pferd war. Was auch sonst.
Dass sie sich durch fünf Paar Beine hindurchzwängen musste, um zur Tür zu gelangen, war ihr jetzt egal. Fast schade, dass sie niemandem auf die edelbeschuhten Füße trat. Die Unterhaltung riss nicht ab, schrille Stimmen übertönten sich gegenseitig, und Rotlippchen hatte jetzt auch einen Schluckauf. An der Tür drehte sie sich mit einem Lächeln, für das selbst eine Stewardess einen Preis bekommen hätte, noch einmal um: „Viszantlátásra“, sagte sie. Akzentfrei. „Danke Oma“, dachte Katja.
© Heike Abidi
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