Eine Tierfabel.
Eine Schar gesunder und glücklicher Hühner lebte mit ihrem Hahn froh und zufrieden auf einem Hof. Doch der Hahn war alt und wurde von Tag zu Tag schwächer, bis er eines Tages starb. „Wer soll uns beschützen?“, fragte eine Henne, und eine andere sorgte sich: „Wer wird uns die besten Happen abgeben, damit wir kräftig genug sind zum Eierlegen?“
Die Sorge der Hühner währte nicht lange, denn schon bald kam ein junger und stolzer Hahn durchs Hoftor marschiert, der so prächtig aussah, dass sie alle für einen Augenblick das Picken vergaßen. Der Gockel krähte laut und vernehmlich und schickte sich dann an, auf dem höchsten Punkt des Misthaufens zu residieren und das Kommando über die ganze Hühnerschar zu übernehmen.
Bald wurden die Hühner unzufrieden und von ihrer Bewunderung für den stolzen Gockel war nicht mehr viel zu spüren: „Warum beschützt du uns nicht, statt uns herumzukommandieren?“, beschwerten sie sich, „und wann fängst du endlich an, uns mit besonders köstlichen Körnern, Würmern und Insekten zu verwöhnen, so wie es der alte Hahn immer getan hat?“ Der Gockel lachte verächtlich: „Schaut euch doch an: Ihr seid so klein und unscheinbar, euer Kamm ist so viel kleiner und blasser als meiner, euer Federkleid so viel stilloser, euer Schwanz im Vergleich zu meinem ein Witz, und euer Gackern ist so primitiv im Vergleich zu meinem klangvollen Kikeriki – und ihr erwartet, dass ich euch diene? Ihr sollt mich bewundern, nicht umgekehrt!“ „Aber so ist es nun einmal auf einem Hühnerhof“, widersprach die mutigste Henne, „und unser alter Hahn …“ „… muss blind gewesen sein“, unterbrach sie der Hahn. „Ich jedenfalls lasse mir das nicht bieten. Deshalb gehe ich weg von hier und suche mir eine Gefährtin, die meinen Ansprüchen genügt.“
Und so tat er es. Er marschierte vom Hof und begab sich auf Wanderschaft. Bald traf er eine Taube, die ihm gut gefiel. Er fragte sie, ob sie seine Gefährtin sein wolle, doch sie kicherte gurrend und entgegnete: „Ich bin ein edler Vogel und gelte als Symbol für höchste Tugenden. Und was bist du? Doch nur ein einfacher Hahn, der nicht einmal richtig fliegen kann.“
„Dann eben nicht“, dachte der Gockel und marschierte entschlossen weiter. Bald traf er ein Falkenweibchen, das ihm gut gefiel. Er fragte sie, ob sie seine Gefährtin sein wolle, doch sie blickte ihn nur scharf an und antwortete nicht einmal. Stattdessen hob sie ab und flog pfeilschnell davon.
„Dann eben nicht“, dachte der Gockel und marschierte beleidigt weiter. Bald traf er eine Eule, die ihm gut gefiel. Er fragte sie, ob sie seine Gefährtin sein wolle, doch sie drehte ihren Hals um 180 Grad und sprach hochnäsig: „Ich gehöre zu den klügsten Tieren, die es gibt. Glaubst du wirklich, ich sei so dumm, mich ausgerechnet mit dir zusammenzutun?“
„Dann eben nicht“, dachte der Gockel und marschierte wütend weiter. Bald traf er eine Schwanendame, die ihm gut gefiel. Er fragte sie, ob sie seine Gefährtin sein wolle, doch sie zischte ihn an: „Was erlaubst du dir, du hässlicher Bauernvogel. Deinen Hennen magst du vielleicht genügen, aber ich spiele in einer ganz anderen Liga.“
„Dann eben nicht“, dachte der Gockel und marschierte nachdenklich weiter. Er achtete kaum auf den Weg, doch plötzlich stellte er fest, dass er wieder vor seinem Hoftor stand. „Warum eigentlich nicht?“, dachte er und beschloss, seinen Hühnern eine zweite Chance zu geben.
Doch das Erste, was er sah, war ein stolzer, junger Gockel, der fast noch etwas kräftiger war als er selbst und dessen Federkleid sogar noch bunter war als das seine. Er wollte auf den Krallen umdrehen, da entdeckten ihn die Hennen und riefen: „Wie gut, dass du wieder da bist – ein Hahn allein genügt uns nicht. Der neue Gockel ist den ganzen Tag damit beschäftigt, uns zu bewundern und uns Komplimente zu machen. Wenn du bleiben willst, musst du uns gegen den Hofkater verteidigen und uns leckere Würmer und Insekten bringen.“
Da seufzte der Hahn und tat, wie die Hennen es ihm vorgeschlagen hatten. Er war ja schon froh, dass sie ihn nicht ebenso verschmähten wie die Taube und das Falkenweibchen und die Eule und die Schwanendame. Ach, wäre er doch bloß nicht so hochmütig gewesen, dann hätte er der stolzeste Hahn weit und breit bleiben können!
© Heike Abidi
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